Das Erwachen

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Das Erwachen

„When the last eagle flies over the last crumbling mountain …“

Thorstens neue Volontärin faltete eifrig Infobriefe und trällerte dabei entspannt vor sich hin. Er warf ihr einen genervten Blick zu. Melissa konnte offenbar nicht arbeiten, ohne dabei kitschige Lieder zu singen. Und das bei der Bullenhitze. Er sehnte sich nach etwas Ruhe oder einem Song von Iron Maiden. Er krempelte die Ärmel hoch und tupfte sich die schweißnasse Stirn trocken. 

Seit heute Morgen saß er hinter dem Schreibtisch und grübelte über eine passende Schlagzeile nach. Die Augustsonne knallte direkt auf den Bildschirm und machte es schwierig, den Text zu lesen. In zwei Wochen war die nächste Ausgabe seines Newsletters fällig, und das Sommerloch hatte alle halbwegs spannenden Themen geschluckt. Nicht einmal ein winziger Umweltskandal war in Sicht. Melissa hob den Kopf. „Ich brauche noch mehr Briefumschläge. Wo finde ich die?“, wollte sie wissen. 

Sie war sehr engagiert, das musste Thorsten ihr lassen. Die Schülerin opferte ihre Sommerferien, um kostenlos und ehrenamtlich seine Umweltschutzorganisation zu unterstützen, statt am Badesee zu liegen und Eis zu essen. Er sollte lieber dankbar für ihren Elan sein als genervt zu gucken, dachte er schuldbewusst. 

Er warf einen Blick auf die Uhr. „Das verrate ich dir nach der Mittagspause. Holen wir uns einen Kaffee und setzen uns auf die Terrasse. Im Kühlschrank ist noch Salat, möchtest du den?“


Befreit sprang das Mädchen auf. Thorsten lächelte über den Eifer, mit dem sie ihre Puderquaste aus der Handtasche zog, um ihre niedliche Nase einzustauben. Dass Frauen immer etwas an sich zu verbessern fanden. Melissa kam ihm hübsch genug vor, mit ihren dunklen Locken und der gebräunten Haut, ein schlanker, hochgeschossener Teenager, gerade dem Zahnspangenalter entwachsen. 

Melissa ließ sich in der prallen Sonne auf einen der Gartenstühle fallen und angelte ihre Sonnenbrille aus der Handtasche. Sie hatte Muffins mitgebracht und stellte sie auf den Gartentisch. „Die habe ich selbst gebacken. Nimm dir einen. Sie sind mit Himbeeren gefüllt, echt superlecker!“, bot sie ihm an. 

Thorsten rückte den Stuhl in den Schatten der Kastanie und lehnte den Kuchen bedauernd ab. „Leider hat mir meine Waage vom Verzehr von Muffins dringend abgeraten, ich muss mich an mein Grünzeug hier halten.“

„Oh, du Armer. Na ja, vielleicht kommt ja Daniel noch vorbei, dann kann er einen haben.“ Melissa errötete. 

Thorsten dachte belustigt, dass Melissa die Muffins wohl vor allem gebacken hatte, um seinen Neffen zu beeindrucken. Seit einigen Tagen kam der junge Mann verdächtig oft im Büro vorbei, um sich eine Büroklammer zu leihen oder ‚mal eben‘ etwas auszudrucken. Meist blieb er dann stundenlang auf Melissas Schreibtischkante sitzen und diskutierte mit ihr über Abfallvermeidung oder Massentierhaltung. Thorsten fand, dass das eine seltsame Art war, einem Mädchen den Hof zu machen, aber Melissa schien sich nicht daran zu stören. 


„Daniel hat mich am Wochenende auf Facebook geaddet. Und er hat alle meine Fotos gelikt. Wir haben stundenlang gechattet“, erzählte sie ihm treuherzig. „Er hat versprochen, mir sein Terrarium zu zeigen und mich zu der Reptilienshow nächstes Wochenende mitzunehmen.“

Sein junger Verwandter hatte wohl einen Volltreffer bei der jungen Dame gelandet. Die wenigsten Mädchen konnten sich für Daniels geliebte Kriechtiere begeistern, aber Melissa schien sich tatsächlich dafür zu interessieren.

Als hätte man ihn gerufen, tauchte in dem Moment Daniel an der Gartenpforte auf. Thorsten wollte ihm schon zuwinken, als er bemerkte, dass Daniel seinen Finger auf die Lippen gelegt hatte und ihn beschwörend ansah. Die Sonne hatte seinen blonden Haarschopf gebleicht und seine Sommersprossen nachgedunkelt. Das weiße T-Shirt mit der Aufschrift ‚Save the Whales‘ hing lose über die ausgewaschenen Jeans. Im rechten Nasenflügel glänzte ein Piercing mit dem Peace-Symbol. Die linke Hand verbarg er hinter sich. So schlich er sich lautlos an Melissa heran, die mit dem Rücken zu ihm saß.

„Tatatata: für dich!“ Daniel hielt Melissa eine wohl gefüllte Eistüte vor die Nase.


Melissa fuhr erschrocken herum. „Hi Daniel!“, quietschte sie entzückt. „Mensch, hast du mich erschreckt! Ist das echt für mich? Das ist ja süß! Danke schön!“ Sie strahlte ihn an und lud ihn ein, sich zu setzen. 

„Schön, dass du vorbeikommst. Ich habe das Rezept ausprobiert, das du mir per Mail geschickt hast und Muffins gebacken. Du möchtest bestimmt Kaffee, ja?“ Eifrig verschwand sie in der Küche. Thorsten schmunzelte in sich hinein. Seit wann interessierte sich Daniel für Rezepte? Melissa weckte ganz neue Seiten an ihm.

„Hallo, Daniel. Du bist ja ein geradezu vorbildlicher Neffe, so oft, wie du in letzter Zeit deinen alten Onkel besuchst“, zog Thorsten den jungen Mann auf. „Was macht dein Terrarium? Hat sich der Leguan endlich gehäutet? Wie hieß er gleich noch? Paul, nicht wahr?“, fragte er, als Melissa mit einer frischen Kanne Kaffee aus der Küche kam. 

„Ja, das Paulchen ist wieder fit. Ein tolles Grün haben die Schuppen jetzt, wo die Haut wieder neu ist. Vorher sah er ja schon total schäbig aus.“

Daniel nutzte sein Stichwort und lud Melissa ein, sich doch gleich heute Abend das frisch gehäutete Prachtexemplar anzusehen. Thorsten trank eine zweite Tasse Kaffee und verjagte nachlässig die lästigen Wespen, die sich von den kleinen Kuchen unwiderstehlich angezogen fühlten. Daniel verdrückte genüsslich einen Muffin und lobte Melissas Backkünste. Die junge Dame schleckte eifrig ihr Eis und gab sich alle Mühe, dabei nicht ihr rosa Tanktop zu bekleckern.

Thorsten lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück und genoss den Augenblick. Alles war friedlich.


In diesem Moment passierte es. Eine kaum wahrnehmbare Erschütterung lief durch die Welt, eine Woge der Beunruhigung. Sie hinterließ ein vages Gefühl von Angst, so wie ein Kräuseln auf der Oberfläche eines ruhigen Sees die Ahnung eines mächtigen Seeungeheuers brachte. Trotz der Hitze fröstelte Thorsten plötzlich. Hatte es ein Erdbeben gegeben? Verwirrt schaute er sich um, aber was immer es gewesen war, es war bereits wieder vorbei. 

Melissa streifte eine ihrer Locken zurück. Sie schloss genüsslich die Augen und ließ ihre Zunge um die Eiskugel kreisen. Ein dunkler Schlangenkopf schob sich neugierig an die Eiskugel heran und ließ die gegabelte Zunge über das Eis schnellen. Die Kälte der Masse schien sie zu irritieren, denn sie zog ihren Kopf ruckartig zurück. Eine zweite Schlange inspizierte unterdessen den Henkel der Kaffeekanne. Thorsten schrie unwillkürlich auf, als er sie sah. Er zog seine Hände so hastig zurück, dass er seine Kaffeetasse zu Boden warf. Die Scherben blieben unbeachtet. 

Daniel starrte Melissa mit aufgerissenen Augen an, den Mund voller Kuchenkrümel. Melissas Haar hatte sich in glänzende, sich windende Schlangen verwandelt, die neugierig ihre Köpfe hoben und sich in alle Richtungen drehten. Glänzende Knopfaugen schauten vorwitzig, gespaltene Zungen schnellten vor und zurück, geschmeidige Leiber wanden sich umeinander. 


Melissa schaute sich fragend um: „Was ist los, warum schaut ihr so entsetzt?“

„Melissa, du hast … du hast Schlangen auf dem Kopf“, stotterte der Junge. Eine der schwarzen Nattern hatte sich um Melissas Handgelenk gewunden und blickte ihr direkt ins Gesicht. Sie sprang auf, der Gartenstuhl polterte zu Boden. Sie kreischte und fuchtelte panisch mit den Händen. Die Schlange wehrte sich gegen die rüde Behandlung und biss sie in die Finger. 

Sie schrie entsetzt auf. „Nimm sie weg!“, kreischte sie. „Wo kommt die her? Daniel, hast du sie mitgebracht? Das find’ ich echt nicht witzig“, schimpfte sie, „bitte, nimm sie endlich weg. Die ist doch nicht etwa giftig?“ 
Die Schlange klammerte sich fester um ihren Arm, die andern Nattern wogten aufgebracht auf ihrem Kopf.

Daniel schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das war ich nicht. Wie könnte ich denn … Melissa, wirklich, die Schlangen wachsen auf deinem Kopf! Ich kann nichts dafür!“ 

Melissa riss ungeduldig an der Schlange und schrie schmerzerfüllt auf. „Aua! Mein Kopf! Was ist hier los, das soll aufhören, sofort!“ 

Thorsten fasste sich ein Herz und wagte es, die böse zischende Schlange von Melissas Arm zu wickeln. Mit zitternden Fingern legte er sie auf ihrer Schulter ab. Melissa tastete über ihren Kopf, schüttelte angewidert die Hände und kreischte hysterisch. „Aaaah, nicht, ich will nicht! Ich will das nicht, macht das weg!“ 
Sie riss verzweifelt an den wild umher peitschenden Schlangen und schrie. Die Schlangen auf ihrem Kopf reagierten panisch, sie waren nicht weniger aufgebracht als das Mädchen.

Daniel kam zu sich, er ergriff Melissas Hände und hielt sie fest. „Nicht, Melissa, du machst es nur noch schlimmer. Du tust ihnen weh. Wenn du um dich schlägst, fühlen sie sich angegriffen. Beruhig dich, ganz ruhig.“ 


Thorsten zitterten noch immer vor Aufregung die Hände, aber er begriff, dass Daniel recht hatte. Er atmete tief durch und bemühte sich ruhig zu sprechen. „Setz dich, bleib ganz still sitzen und bewege dich nicht, damit sich die Schlangen beruhigen können.“ 

Er hob den auf dem Kies liegenden Klappstuhl auf und schob ihn Melissa hin. Das Mädchen sank in sich zusammen. Mit hängenden Schultern blieb sie sitzen. Die Nattern schmiegten sich tröstend an ihre Wangen. Sie züngelten aufgeregt. 

„Ich bin ein Mo … Mo … onster.“, jammerte sie fassungslos. 

Daniel legte ihr die Hand auf den Arm, sich vorsichtig von den zischelnden, sich ringelnden, lebenden Locken fernhaltend. 

„Hey, die Schlangen sehen echt cool aus. Wie Rastalocken. Sie sind nicht gefährlich, oder? Geht es deinen Fingern gut?“

Thorsten wurde es mulmig zumute. Gab es da nicht eine griechische Sage von einer Frau mit Schlangenhaar? Wenn er sich richtig erinnerte – aber nein, das konnte nicht sein. Es wuchsen allerdings auch niemandem Schlangen auf dem Kopf. Er musste sich vergewissern.


Er stellte sich hinter Melissa und zog Daniel neben sich. Dann legte er dem Mädchen die Hände auf die Schulter. Sofort untersuchten die Schlangen seine Finger. Verflixt, die waren wirklich extrem neugierig, dachte Thorsten. „Melissa, tu mir einen Gefallen“, sagte er, „schau mal auf deinen Teller. Schau nur auf den Teller, nirgendwo sonst hin. Versprochen?“

Melissa nickte. „Gut, mach’ ich. Aber wozu denn?“ 

Er ignorierte ihre Frage. „Gut, nicht wegschauen. Dreh auf keinen Fall den Kopf!“ 

Er nahm dem Mädchen die Sonnenbrille ab. Verwirrt, aber gehorsam blickte sie auf den Tisch. Ihr ungefilterter Blick fiel auf die Wespe, die über dem Teller ihre Kreise zog. Das gelb-schwarze Insekt stürzte wie vom Blitz getroffen ab und landete mit einem deutlich hörbaren ‚Klock‘ auf dem Tisch. Thorsten ließ die Sonnenbrille wieder über Melissas Augen gleiten. Dann hob er das Tier auf. Es fühlte sich seltsam schwer an. Auf seiner Handfläche lag eine winzige Wespenskulptur, jede Einzelheit sorgfältig nachgebildet in schwarzem Obsidian und honigfarbenem Topas. Durch den Sturz war einer der durchscheinenden Kristallflügel zerbrochen, ansonsten war sie perfekt.

Daniel beugte sich zusammen mit Melissa über das versteinerte Insekt. Der Junge pfiff beeindruckt durch die Zähne. „Mit diesen winzigen Kunstwerken könntest du ein Vermögen verdienen.“ 

„Sei vorsichtig. Du darfst die Sonnenbrille nicht absetzen. Nicht, dass du mehr als Insekten in Stein verwandelst!“, warnte Thorsten. Hoffentlich verlor Melissa nicht die Nerven – das könnte für sie alle tödlich enden. 


Sie hielt die Wespe dicht vor die Sonnenbrille, ein perfektes Kunstwerk, das vor wenigen Minuten noch ein lebendiges Tier gewesen war. „Das ist ein Albtraum. Gleich wache ich auf und es war alles nur ein Albtraum“, murmelte sie. Melissa saß so still, als wäre sie selber zu Stein geworden, dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Die Schlangen ließen ihre Köpfe hängen. Sie wirkten schlaff und leblos. 

Daniel hatte sich neben sie gesetzt, hielt ihre Hand und sprach leise auf sie ein. Melissa legte ihren Kopf an seine Schulter, ihre kleinen Schlangen kuschelten sich zärtlich an Daniel. Der junge Mann legte den Arm um ihre Schultern und murmelte tröstende Worte in ihr Ohr.

Mit Schaudern dachte Thorsten daran, dass ein einziger Blick genügt hatte, um aus der Wespe einen Stein zu machen. Dieses Kind war verdammt gefährlich! Aber was konnte er tun? Sie hatte sicher einen Schock, aber er konnte sie nicht einfach ins Krankenhaus bringen. Genauso gut hätte er gleich die Freakshow anrufen können. Er konnte nur hoffen, dass der Spuk bald vorbei sein würde.

„Ich bringe dich nach Hause“, sagte er. „Du brauchst Ruhe und vielleicht verschwinden die Schlangen nach einer Zeit von selber wieder?“

Daniel bestand darauf, mitzukommen: „Ich will Melissa nicht alleine lassen! Die Schlangen sind mir egal, ich finde sie toll!“

Melissa lächelte ihn dankbar an, ihre Tränen versiegten nach und nach. Sie klammerte sich an Daniels Hand und blickte vertrauensvoll zu ihm auf. 

„Bitte, Thorsten, lass Daniel mitkommen. Meine Mutter kann erst am Abend nach Hause kommen und ich möchte nicht alleine zu Hause bleiben.“

Die beiden Teenager standen Hand in Hand vor ihm. 

„Ab mit euch!“, sagte er und scheuchte seine beiden Schützlinge zur Garage, wo sein dunkelblauer Ford Fiesta parkte. Daniel kletterte auf den Rücksitz, Melissa stieg vorn ein. 


Als Daniel den Wagen startete, plärrte das Radio los: „… zahlreiche Hörer aus dem gesamten Sendegebiet haben sich bei uns gemeldet und von seltsamen Phänomenen berichtet. Fotos und Berichte über Trolle, Einhörner und andere Fabelwesen erreichten die Redaktion. Weltweit scheinen sich Personen in verschiedenartigste Sagengestalten verwandelt zu haben. Es kam zu Massenhysterien. Auch bei der Polizei und den Behörden gingen zahlreiche Meldungen ein. Es kam zu etlichen Verkehrsunfällen, weil Autofahrer die Kontrolle über ihre Fahrzeuge verloren haben. Mehrere unabhängige Augenzeugen berichteten, dass ein mehr als fünf Meter hoher Mann unvermittelt auf der Fahrbahn der A3 auftauchte und die Fahrer zu plötzlichen Bremsmanövern zwang. Mehr als dreißig Fahrzeuge verkeilten sich ineinander. Die Strecke bleibt voraussichtlich bis in die späten Abendstunden gesperrt.

Die Ursachen liegen im Dunkeln, es gibt bisher keine wissenschaftliche Erklärung für dieses Phänomen. Im Internet werden mögliche Zusammenhänge mit Sonnenflecken oder Magnetfeldern diskutiert. Auch eine bisher unbekannte Strahlung könnte als mögliche Ursache infrage kommen. Verschiedene religiöse Gruppen sehen darin die Vorboten des Armagedd…“

Melissa schaltete abrupt das Radio ab. „Ich bin nicht die Einzige, die sich verändert hat. Warum diese Leute, warum ich, warum nicht Daniel oder du, Thorsten? Was habe ich verbrochen, dass ich zu so einem Monster werde?“

Daniel protestierte lautstark. „Du bist kein Monster. Du bist außergewöhnlich. Du bist etwas Besonderes!“


Melissa versank in nachdenkliches Schweigen. Aber um ihre Mundwinkel spielte ein winziges Lächeln und ihre Schlangen fingen an, sich neugierig umzusehen.

Der Wagen brummte gleichmäßig über die sonnendurchflutete Landstraße, der staubige Geruch des Sommers wehte durchs offene Fenster, die Felder lagen schläfrig in der Nachmittagssonne. 

„Darf ich Musik anmachen?“, fragte Melissa. Thorsten verdrehte innerlich die Augen, aber er stimmte zu. Melissa ohne ihre Schmusesongs, das war wohl undenkbar, Schlangen hin, Todesblick her. Sie stöpselte ihren iPod an seine Anlage.

Die ersten Takte verklangen und hüllten die Insassen des Fahrzeugs in die altvertrauten Klänge eines der von Melissa so geliebten Evergreens. Der Fahrtwind trocknete die letzten Tränenspuren. Wie es ihre Gewohnheit war, sang Melissa die Melodie mit, ihre Stimme klang süß und verlockend. Daniel begann mitzusingen. Der Wagen tauchte in den kühlen Schatten eines Wäldchens ein, ihre Stimmen erfüllten das Fahrzeug mit Musik. Thorsten trommelte den Rhythmus auf das Lenkrad.

Ein vielstimmiger Chor fiel ein und begleitete ihren Gesang. Thorsten schaute verblüfft zu Melissa hinüber. Die Schlangen auf ihrem Kopf wiegten sich im Takt und sangen aus voller Kehle. Vor Schreck wäre Thorsten fast von der Straße abgekommen. Er musste hektisch gegenlenken, der Ford schleuderte um die enge Kurve, die vor ihm lag. Im nächsten Augenblick trat er panisch auf die Bremse. Die Straße vor ihm war blockiert. 


Ein gigantisches, schuppen bewehrtes Wesen lag quer über die Fahrbahn. Thorsten registrierte noch die flammend roten Flügel, einen lang gezogenen orangefarbenen Kopf und eine ängstlich an einen Baumstamm gepresste Gestalt, an der das riesige Tier schnüffelte; im selben Augenblick krachte es auch schon. Der Airbag des Fahrzeuges nahm ihm den Atem und der Sicherheitsgurt schnitt schmerzhaft in seine Schulter. Die Welt tauchte in prasselndem, brüllenden Lärm unter. Er versuchte den Nebel vor seinen Augen zu vertreiben, benommen tastete er nach der schmerzenden Stelle auf seinem Kopf. Er hatte einen eisernen Geschmack im Mund.

Irgendetwas gab klagende Töne von sich, röhrend und schrill wie ein Nebelhorn. Als er die Augen öffnete, war die Windschutzscheibe blutbespritzt. Knochensplitter ragten aus einer Wunde im Brustkorb des kolossalen Tieres. Ein Schnauben ließ ihn den Kopf zur Seite drehen. Durch das Fenster starrten ihn dunkle Augen an. Das Reptilienmaul öffnete sich, zischend und brodelnd spukte das Wesen Feuer. Die Flammen umspielten die Scheiben und leckten über den Lack des Fords. Thorsten stieß einen entsetzten Schrei aus. Die Lohe umtänzelte den Seitenspiegel und schlug hinter dem Fiesta zusammen. Durch das geöffnete Seitenfenster drang der durchdringende Gestank von verbranntem Lack.

Thorsten spürte das Adrenalin in seinen Adern kochen, die Temperatur im Inneren des Fahrzeugs stieg. Er hatte das Gefühl, dass sich sein Haar durch die Hitze kräuselte. Melissas gellende Schreie schmerzten in seinen Ohren, vom Rücksitz erreichte ihn Daniels Gewimmer. Wahnsinn.

Seine Gedanken rasten. Er löste den Sicherheitsgurt und drehte sich um. „Daniel, schnell! Unter dem Sitz ist der Feuerlöscher, gib ihn mir!“ Zum Glück reagierte Daniel prompt und fand die kleine rote Flasche sofort. Thorsten wartete auf den richtigen Moment, sein Herz schlug wie eine Buschtrommel. Endlich holte der Drachen Atem, die Flammen versiegten. Er nutzte die Gelegenheit und kurbelte mit schweißnassen Fingern das Fenster herunter. Zweifel tobten in ihm. Wenn das schiefging, brachte er sie mit dieser verrückten Aktion alle um. Das Ungeheuer senkte den Kopf und setzte zu einem weiteren Flammenstoß an. Entschlossen zog Thorsten den Hebel des Feuerlöschers durch. Schaum sprühte in das gewaltige Maul des Tieres. Statt Flammen zu speien, brüllte das Monster auf. Löschschaumfetzen flogen wie überdimensionale Schneeflocken aus seiner Schnauze. 

„Nichts wie raus aus dem Wagen, bevor er sich erholt“, brüllte Thorsten. Melissa riss die Beifahrertür auf und schlüpfte ins Freie, Thorsten hechtete über den Sitz und folgte ihr. Der Drachen hustete und würgte, ein durchdringender Geruch nach verschmortem Gummi lag in der Luft.


Ein rascher Blick über die Motorhaube verriet ihm, dass sich der Drachen einem anderen Opfer zugewendet hatte. Eine rothaarige Frau prügelte wie eine Wahnsinnige mit einer Holzlatte auf das Fabelwesen ein und schimpfte dabei wie ein Rohrspatz. Zweifelsohne eine Irre, aber eine Irre, die ihnen das Leben rettete. Ihr Ablenkungsmanöver verschaffte Daniel genug Zeit, über die Sitze nach vorn zu klettern und aus dem Wagen zu flüchten. Gemeinsam gingen sie hinter dem Auto in Deckung.

Die Angreiferin fesselte die Aufmerksamkeit des Untiers, aber lange würde sie dessen Angriffe wohl nicht mehr standhalten können. 

„Melissa, du musst die Sonnenbrille absetzen und den Drachen ansehen!“ drängte Thorsten. 

Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das mache ich nicht. Ich bringe ihn um, wenn ich das tue.“

„Aber er bringt uns um, wenn du es nicht tust!“ 

Melissa presste die Lippen zusammen und hielt ihre Sonnenbrille krampfhaft fest. Ihre Schlangen gingen in Angriffsposition und zischten giftig. 

Thorsten sah ein, dass sie nicht auf Melissas Kräfte zählen konnten. Sie mussten den Drachen ablenken und das schnell, sonst war die Rothaarige tot. Thorsten war speiübel vor Angst, seine Handflächen schwitzten und seine Knie zitterten. 

„Wir schieben das Auto gegen den Drachen – ich hoffe, das bringt das Vieh dazu, das Fahrzeug anzugreifen. Sobald er mit dem Wagen beschäftigt ist, rennen wir, was das Zeug hält.“

Gemeinsam stemmten sie sich gegen das Heck des Fahrzeugs und schoben. Die Stoßstange drückte gegen die Wunde, der Drachen heulte schmerzerfüllt auf.


Brunhilda saß in der Klemme. Alles war so schnell gegangen. Eben noch war sie mit Trixi, ihrem Labrador Retriever, unterwegs gewesen. Sie hatte, träge von der Hitze, Stöcke für ihn geworfen und die junge Hündin war in nimmermüden Eifer vor und zurück gehechelt. Jetzt stand sie vor einem Feuer speienden Fabelwesen, das es an sich gar nicht geben konnte, und drosch ihm eine morsche Dachlatte auf die Nase. Hatte dieses Vieh Trixi erwischt oder war die Hündin davongelaufen? Sie war jedenfalls spurlos verschwunden.

Das Fabelwesen spuckte noch immer Schaum, sonst wäre sie längst zu Grillfleisch verarbeitet. Das war eine schlaue Idee von dem Fahrer gewesen. Hoffentlich fiel dem Typen bald noch mehr ein, sonst war Hilda Geschichte. Frustriert gab sie dem Drachen noch eines auf die Nase, bevor er sie erledigen konnte. Aber anstatt sie weiter zu bedrängen, wandte sich das Monster plötzlich gegen das Fahrzeug. Heulend vor Wut ließ er seinen Schwanz gegen das Auto krachen. Der Fiesta kippte und blieb auf der Seite liegen, der Drachen verbiss sich wütend in die Reifen des Gefährts.

Die beiden Jugendlichen aus dem Wagen stürmten in den Wald und suchten Deckung zwischen den Bäumen. Brunhilda wollte ihnen folgen, aber sie blieb wie gebannt stehen und starrte auf die schreckliche Szene vor ihr. Der Drachen drehte durch und zerfetzte das Fahrzeug. Er riss das Blech auf, als wäre es dünne Pappe, seine gewaltigen Klauenhiebe zerstörten den Wagen gründlich.


Der Mann aus dem Wagen berührte sie an der Schulter. „Los, los. Schnell jetzt, bevor er auf die Idee kommt, dass wir die besseren Partyhäppchen wären“, drängte er und schob sie vorwärts. 

Sie erwachte aus ihrer Trance und begann endlich zu rennen. Gleich darauf tauchten beide zwischen den Bäumen unter. Eilig durchquerten sie einen Waldstreifen, bis sie auf ausgediente Schienen stießen, die, von Gras überwuchert, am Waldrand entlangliefen. Die beiden Teenager warteten dort auf sie. Das Mädchen lief ihnen erleichtert entgegen, als sie ankeuchten.

„Ein Glück, ihr seid unverletzt. Ich hatte solche Angst, dass der Drachen euch doch noch erwischt hat!“ Sie umklammerte Brunhildas Hand. „Sie haben uns das Leben gerettet! Wie mutig von Ihnen, dass Sie den Drachen angegriffen haben. Sonst wären wir nie aus dem Auto rausgekommen!“ Die Schlangen auf ihrem Kopf schmiegten sich zutraulich an Hildas Wangen.


Hilda starrte auf die Schlangen. Das ist unmöglich, dachte sie. Zuerst ein Feuer speiender Drachen, der urplötzlich aus dem Nichts heraus vor ihr aufgetaucht war. Jetzt stand vor ihr eine junge Frau mit Schlangenhaar? Zweifelnd berührte sie eines der Tiere. Die Natter ringelte sich zärtlich um ihre Hand.

„Die Welt spielt verrückt. Wenn ich es nicht selbst sehen würde, würde ich es nicht glauben. Erst ein Drachen und jetzt eine Gorgone!“ Ihre Stimme bebte.

„Sie dürfen keine Angst vor mir haben, ja, bitte? Ich setze auch die Sonnenbrille nicht ab, ganz bestimmt nicht!“ 

Hilda staunte. Da war die Kleine mit Mühe und Not einem Drachen entkommen, aber ihre einzige Sorge war, ob sich eine Fremde auch nicht vor ihr fürchtete. Sie begriff, wie verstört das Mädchen sein musste. Ganz klar waren die Schlangen nichts, woran sie gewohnt war. Kein Wunder, dass sie völlig aufgelöst war.

 „Natürlich habe ich keine Angst vor dir. Deine Schlangen sind reizend!“

Der junge Mann legte seiner Freundin beruhigend den Arm um die Schulter. „Siehst du? Hab’ ich dir doch gesagt. Die Schlangen sind klasse. Ich bin vorhin fast umgefallen, als sie gesungen haben! Es war so schön!“ 


Hilda verstand gar nichts mehr. Aber das war auch egal, sie musste die Nerven behalten und Trixi finden, auch wenn sie sich fühlte, als könnte sie jeden Moment hysterisch werden.

Sie versuchte, ruhig zu sprechen. „Hat einer von euch meinen Hund gesehen? Ein rotgoldener Labrador, ich fürchte, der Drachen …“ 

Ihre Stimme brach und sie musste schlucken. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie blinzelte sie tapfer fort.

„Es tut mir leid. Ich habe keine Spur von einem Hund gesehen“, entgegnete der Mann und zuckte bedauernd mit den Schultern, „aber bestimmt ist er nur weggelaufen und hat sich in Sicherheit gebracht? Hunde sind schlau. Bestimmt ist er dem Drachen entkommen!“ 

Melissa nickte. „Oh, hoffentlich ist dem Hund wirklich nichts passiert. Wenn der Drache ihn jetzt gefressen hat!“

Daniel stieß Melissa den Ellbogen in die Seite und brachte sie zum Verstummen. „Ich bin ganz sicher, da war kein Hund weit und breit. Der hat bestimmt Angst bekommen und ist geflüchtet – ist doch nur logisch!“, sagte er beruhigend.

Trixi hätte wohl eher versucht, sie zu beschützen und den Drachen anzugreifen, dachte Hilda. Es sah ihr nicht ähnlich, das Hasenpanier zu ergreifen. Aber vielleicht hatte der Drache die Hündin tatsächlich so verängstigt, dass sie in Panik weggelaufen war. Brunhilda klammerte sich an diese Hoffnung.


„Ich heiße Thorsten. Thorsten Corrach“, stellte der Mann sich vor. Er streckte ihr seine Hand hin, sein Händedruck war warm und kräftig.

„Ich bin Brunhilda Karzeł. Hilda für meine Freunde.“

„Melissa hast du ja schon kennengelernt, der Junge ist mein Neffe, er heißt Daniel.“ 

Er nickte zu den beiden jungen Leuten hinüber. Melissas Schlangen ringelten sich lebhaft und wogten aufgeregt hin und her, Daniel schubste eine der Nattern zurück, die sich neugierig an ihn drängte. 

Hilda schüttelte staunend den Kopf. „Diese Schlangen – unglaublich.“ Sie wendete sich wieder an Thorsten. „Ihr seid wirklich zur richtigen Zeit in dieses Biest hinein gefahren. Ich möchte gar nicht daran denken, was sonst passiert wäre. Danke dafür, dass ihr nicht abgehauen seid, sondern den Drachen von mir abgelenkt habt.“ 

Der Mann errötete. „Wir müssen uns bedanken. Ohne dich wären wir nicht aus dem Auto rausgekommen. Aber es war trotzdem verrückt, einen Drachen eins mit der Latte überzubraten.“ 

Hilda lächelte ihn an: „Wir sind alle echte Helden, was?“ 

Sie musterte ihn unauffällig. Er war ein sympathisch wirkender Mann, nicht sehr groß, aber er hatte breite Schultern und war kräftig gebaut. 

Sie deutete auf seine Stirn. „Hast du dich verletzt? Du blutest!“, sagte sie besorgt. 

Er fasst sich an die Stelle. „Es ist nichts. Ich habe mir wohl beim Unfall den Kopf gestoßen.“ 

„Ich wohne nicht weit von hier. Da könntest du dich waschen und ich gebe dir ein Pflaster. Und ihr alle könntet euch etwas ausruhen“, bot sie an. 


Gemeinsam folgten sie dem überwucherten Gleisbett bis zu einem alten Steinbruch, die beiden Teenager eilten voraus, Hilda schnaufte mit Thorsten hinterher. Sie lauschte seinem Bericht über die Ereignisse der letzten Stunden und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Schließlich erreichten sie eine Felswand, aus der in vergangenen Tagen der gelbliche Kalkschiefer gebrochen worden war, ragte aus einem stillen Teich auf. Das Ufer war mit Weiden und Gras bewachsen, die Bäume ließen verträumt ihre Zweige ins Wasser hängen. Der Schienenstrang führte an der wackeligen Bauhütte, in der Hilda wohnte, vorbei und verschwand zwischen den Büschen. Eine verrostete Lore stand noch auf den Gleisen. Weidenröschen und Schafgarbe überwucherten das Kiesbett, unten am Wasser lag eine Grillstelle.

Als Hilda die Lichtung erreichte, suchte ihr Blick sofort die Matte unter der wackligen Holztreppe, auf der ihre Hündin gerne die heißen Sommertage verträumte. Sie war leer. Kein fröhliches Gebell begrüßte sie, kein erregtes Schnaufen und keine kalte, feuchte Schnauze, die sich an ihre Beine drückte.

Hilda wurde das Herz schwer. Sie rief nach Trixi, aber alles blieb still. 

Thorsten legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter. „Sie taucht bestimmt wieder auf“, versicherte er tröstend, „mach dir nicht zu viele Sorgen!“ 

Hilda musste schlucken. „Ich hoffe, sie versteckt sich irgendwo im Wald. Ich muss sie Suchen gehen!“ 

„Der Drachen ist immer noch irgendwo im Wald. Es ist zu gefährlich nach dem Hund zu suchen – du kannst nur hoffen, dass sich deine Trixi gut versteckt hat und wieder kommt, wenn der Drachen weitergezogen ist.“

Hilda schaute ihn traurig an, aber sie nickte. „Du hast recht. Noch einmal möchte ich dem Drachen nicht begegnen.“ Ihre Stimme zitterte leicht. „Außerdem brauchen wir alle eine Pause.“  


Melissa stand staunend zwischen den Skulpturen, die überall vorwitzig zwischen den Büschen hervorlugten oder sich hinter den üppig wuchernden Blumen versteckten. Es waren fantastisch anmutende Fabelwesen aus Stein, Holz und Metall. 

Daniel blickte sich anerkennend um. „Cool“, lautete sein Kommentar. „Woher hast du die Figuren?“, fragte er Hilda.

„Das sind meine. Ich bin Bildhauerin. Fabelwesen haben mich schon immer fasziniert“, erklärte sie. Sie ließ ihre Hand über eine Greifenfigur aus Stein gleiten. „Unten am See, am Wasser, steht auch eine Gorgone, eine Frau mit Schlangenhaar.“

Das Mädchen wanderte von einer Figur zur nächsten und betrachtete sie entzückt. „Ich wünschte, ich würde nicht lebendiges in Stein verwandeln, sondern könnte Steine lebendig machen“, sagte sie sehnsüchtig. Hilda horchte auf. Die junge Frau hatte wohl nicht nur das Schlangenhaar, sondern auch die unselige Gabe der Medusa.

Daniel ließ sich ins Gras fallen und stützte sich auf die Ellbogen. „Mann, hey, der Tag heute ist so was von abgefahren. Was heute Mittag los war, war ja schon krass, so mit Mellis Todesblick und ihren Schlangen. Und jetzt noch ein Feuer speiender Drachen? Es ist so cool!“


Brunhilda blickte den Jungen an. Ganz klar, der Teenie fand ein Leben mit Monstern und Magie interessanter als das tägliche Einerlei. Ein wenig erstaunt stellte Hilda fest, dass es ihr genauso ging. Der Drachen hatte sie fast umgebracht und wahrscheinlich ihren Hund getötet, aber er war schön gewesen, aufregend und gefährlich. Genau wie Melissa. 

Thorsten folgte Hilda die steile Treppe hinauf in die Bauhütte. Auf die Stufen hatte sie Blumentöpfe mit leuchtend bunten Geranien gestellt.

In ihrer zweckmäßig eingerichteten Küche kümmerte sie sich um seine Verletzung. Er genoss das Aufheben, das sie um ihn machte und wie sanft sie mit dem feuchten Tuch über seine Stirn tupfte. Hilda gefiel ihm, ihre ruhige, entschiedene Art und ihre dunkle, sanfte Stimme. Ihre Zöpfe waren in einer Krone um ihren Kopf gewunden, glänzend rot wie gesponnenes Kupfer. 

„Hast du Hunger?“, fragte sie. 

Thorsten nickte hocherfreut. Sein Magen knurrte, der Salat heute Mittag hatte nicht lange vorgehalten, zumal er kaum die Hälfte davon geschafft hatte, bevor das Chaos ausgebrochen war. Hilda stellte einen Imbiss zusammen und kochte Kaffee. „Lass uns draußen essen!“, schlug sie vor.


Sie balancierte ein Tablett mit belegten Broten in den Garten, Thorsten übernahm den Transport der Kaffeekanne und des Geschirrs. Melissa und Daniel beeilten sich, Decken und Sitzkissen für das Picknick zu verteilen. Die Brote stellten sie auf einem niedrigen Holzklotz ab, der Kaffee dampfte in den Tassen, die Nachmittagssonne strahlte, Bienen summten um sie herum. Der Himmel war tiefblau – die Welt war soeben schwer in Ordnung, fand Thorsten. 

Der feuerrote Klatschmohn nickte im Wind, Schmetterlinge gaukelten von Blüte zu Blüte. Melissas gute Laune kehrte zurück, als sie sich neben Daniel setzte. Ihre Schlangen bezüngelten interessiert das Brot, das sich Melissa nahm. Sie bot ihnen ein Stück Käse an, aber ganz offenbar hatten sie keinen Appetit darauf. Stattdessen begannen sie harmonisch zu summen und nahmen die Melodie von vorhin wieder auf. Eine der Schlangen begann zu singen, nach und nach fielen die anderen in das Lied ein.

Ihre Stimmen klangen betörend, verlockend und beschworen eine tiefe Sehnsucht nach einer fremden Welt in ihren Zuhörern herauf. Melissas Augen weiteten sich vor Staunen, dann lachte sie leise auf und sang mit. Die Köpfe der Nattern nickten im Rhythmus des Beats. Melissas Sopran verschmolz mit den Stimmen ihrer Schlangen. Die Anderen lauschen gebannt. Es schien, als würde die Welt auf geheimnisvolle Weise tiefer, farbiger werden, als pulsiere die Welt auf einmal von einer Energie, die es vorher nicht gegeben hatte. Thorsten versank in Träumereien. 


Ein hohes, kieksiges Kichern riss ihn aus seinen wohligen Gedanken. „Schau an, schau an, da sitzt jemand auf meiner Wiese und tut sich gütlich an allerlei Leckereien! Sollte man nicht erst fragen, bevor man sich auf fremdem Eigentum niederlässt?“ 

Melissa verstummte erschrocken. Ein blauer Falter umgaukelte sie. Thorsten schaute genauer hin: Die schillernden Flügel gehörten nicht zu einem Insekt, sondern zu einem possierlichen Männchen, das bis auf einen winzigen Zylinder auf seinem Kopf völlig nackt war. 

„Habt ihr euer Lebtag noch keinen Pixie gesehen? Da staunt ihr, he?“ Er lüpfte den Chapeau Claque und verneigte sich theatralisch. „Severin von der Wegwarte ist mein Name. Dichter, Spötter und Blumenelf!“

Zu Thorstens Überraschung machte Hilda einen Knicks. „Hocherfreut, Herr von der Wegwarte. Nehmt doch Platz an unserem Tisch. Möchtet Ihr vielleicht auch einen Fingerhut Kaffee?“ 

Der Winzling wurde neugierig. „Kaffee? Was ist das? Das kenne ich nicht. Schmeckt das süß?“

Er schlug einen Salto in der Luft, drehte vor sich hin kichernd eine Runde um Thorstens Kopf und ließ sich auf dem Deckel der Kaffeekanne nieder.

Melissa beugte sich vor, um ihn genauer zu sehen. Ihre Nattern umkreisten den Blumenelfen, um ihn zu beäugen. Sie züngelten aufgeregt. Der Kleine fiel vor Schreck fast in die Butterdose. Er rettete sich hinter das Marmeladenglas, wo ihn eine der Schlangen sanft anstupste. 

„Was ist das? Lasst nicht zu, dass diese Viper mich frisst!“

Melissa fing ihre Schlangen ein. „Sie wollen nur mit dir spielen. Du brauchst keine Angst zu haben!“

Die Nattern nickten eifrig. „Spielen. Wir wollen spielen!“, sangen sie in hohen Tönen.

Misstrauisch betrachtete er die Schlangen, die jetzt reglos auf dem Tisch lagen. Der Pixie näherte sich vorsichtig und hielt ihnen seine Hand hin. Eine gegabelte Zunge wischte über die winzigen Finger. So ermutigt wagte er es, den Schlangenkopf zu streicheln. Die Schlange gab ein wohliges Summen von sich und stieß zwitschernde Laute des Wohlbehagens aus. Eine Zweite drängte sich an Severin und stupste ihn sanft an. Er flatterte erschrocken auf, die geschmeidigen Leiber bildeten einen Torbogen für ihn. Die erste Schlange glitt mit ihm zusammen durch den Bogen und veranstaltete ein Wettrennen mit ihm. Die Schlangenwolke begann zu singen. Thorsten sah ihnen gebannt zu. Die Welt war aus den Fugen geraten, was würde wohl als Nächstes passieren? 

Hilda und Daniel hörten gebannt zu. Ihre Augen glänzten, ein strahlendes Lächeln lag über ihren Gesichtern. Als der Refrain kam, sangen sie mit.


Ein klagendes Geräusch schreckte sie auf und riss sie aus ihrer Verzauberung. Ein Reh brach durchs Dickicht am Rande des Steinbruchs, panisch hetzte das zierliche Tier über die Lichtung. Daniel sprang auf, Hilda ließ erschrocken ihre Tasse fallen, ein heiseres Winseln und Fauchen in den Büschen versetzte sie in Panik. 

„Der Drachen kommt!“, rief Thorsten warnend.

Melissa presste ihre Hände auf den Mund, ihre Schlangen verbargen sich hinter ihren Kopf und rollten sich dort zu einem festen Dutt zusammen. Sie wurde blass und fing an zu zittern, aber Brunhilda nahm sie bei der Hand. „Es gibt einen Pfad hinauf auf die Klippe, dorthin kann uns ein so riesenhaftes Tier nicht folgen. Hab keine Angst, Melissa.“

Ein versteckter Steig führte an der Abbruchkante der Felswand entlang steil nach oben. Brunhilda hatte keine Lust, noch einmal an den Drachen zu geraten und trieb die anderen zur Eile an. Sie rannten fast, in Windeseile erklommen sie die Anhöhe. Severin umschwirrte die Gruppe und plapperte dabei unentwegt. Bald überblickten sie den Steinbruch. Das Schnaufen und Ächzen näherte sich, das Gestrüpp am Rande der Lichtung wogte, der gewaltige, rotgoldene Drachen brach zwischen den Sträuchern hervor. 

Hilda spähte über die Kante. Das Tier schleppte sich nur mühsam vorwärts, der gebrochene Flügel schleifte jämmerlich hinter ihm her. Bisweilen hielt er inne, um röchelnd Atem zu holen und an seinen Verletzungen zu lecken. Die Farben der Flügel wirkten matt. Ihr Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen. Er stolperte hinunter an den Teich und watete ins Wasser, um zu saufen. Der Drachen schluckte mühsam und unter ständigem Winseln. 


„Dem geht es gar nicht gut. Ich fürchte, er stirbt! Ihr habt ihn schwer verletzt, als ihr ihn angefahren habt! Er braucht dringend Hilfe!“

Thorsten sah sie skeptisch an: „Wie willst du diesem Monster helfen? Frag dich lieber, wie du ihn von deinem Grundstück wieder verscheuchen willst, er scheint sich gerade häuslich an deinem See einzurichten!“

Brunhilda schüttelte den Kopf. „Nein, schau mal, wie erschöpft er ist. Er scheint eine Menge Blut verloren zu haben, und die gebrochenen Rippen müssen ihm unerträgliche Schmerzen zufügen. Dein Auto hat ihn ganz schön zugerichtet!“

Melissa nickte. „Der Ärmste. Aber was sollen wir machen? Wir sind doch keine Ärzte!“

„Was wir tun können? Wir gehen da runter und verbinden ihn. Das tun wir!“ Hilda konnte nicht anders: Sie konnte nicht tatenlos zusehen, wie dieses unglaubliche Wesen jämmerlich zugrunde ging. 

„Hilda, du spinnst! Sogar ein normales Tier greift einen an, wenn es verletzt ist. Eben wollte er dich noch zum Kaffee verspeisen und jetzt willst du die Samariterin spielen? Er ist doch kein Haustier!“

Brunhilda sah nachdenklich auf den Drachen hinunter. „Er ist auch verwandelt, nicht wahr? Was er wohl war, bevor er ein Drachen wurde? Severin, weißt du es?“ 


Der Elf hatte sich auf einer von Melissas Schlangen niedergelassen, die sich friedlich in sauberen Reihen geordnet hatten. Der Pixie wirkte wie eine schimmernde Haarschleife auf den dunklen Leibern. Er dozierte mit piepsiger Stimme, aber stolzgeschwellter Brust. „Es heißt, dass die Drachen sterben, wenn die Zeit der Magie endet. Sie sterben und hinterlassen die Drachensaat, bunt schillernde Samen. Sie sehen aus wie farbige Kiesel. Wenn die Magie erwacht, beginnen diese Kiesel zu duften und locken so ein Tier heran. Wenn dieses Tier dann einen der Kiesel frisst, verwandelt es sich in einen Drachen. So erzählen unsere Legenden.“

„Das heißt, dieser Drachen war bis vor Kurzem ein Tier?“, fragte Daniel. „Was ist mit dir? Warst du ein Mensch oder ein Tier? Ein Schmetterling vielleicht?“

„Ich bin und war die Wegwarte. Das sagt schon mein Name. Als die Magie bei der letzten Zeitenwende verschwunden ist, wurde ich zu einer Blume. So habe ich die Jahrhunderte überdauert. Mir kommt es vor, als hätte ich geschlafen in all diesen Jahren. Gestern haben hier endlose Wälder gestanden und nur wo ein Baumriese gefallen war, war Raum für meine Blüten. Die Welt hat sich verändert in der Zeit, in der ich träumte.“

„Also bist du über zweitausend Jahre alt?“, fragte Daniel.

„Ich bin viel, viel älter. Seit die Wegwarte auf dieser Welt blüht, habe ich die Magie miterlebt. Sie kommt und geht wie Ebbe und Flut.“


Brunhilda hatte den Drachen nicht aus den Augen gelassen, während der Pixie seine Geschichte erzählte. Jetzt unterbrach sie ihn aufgeregt. „Der Drachen verhält sich genau wie ein Hund. Er winselt, er leckt seine Verletzungen, er rollt sich zusammen. Ich glaube, der Drachen wollte mich gar nicht fressen – er wollte mit mir spielen. Er hat mit dem Schwanz gewedelt, er ist auf mich los gesprungen, die Zunge hing ihm aus dem Maul und er schnüffelte an mir. Weil er so riesig ist, so furchterregend aussieht, dachte ich, dass er mich bedroht. Aber das stimmt nicht. Ich glaube, das da unten ist meine Trixi. Schau dir seine Farbe an – das ist genau die Farbe, die ihr Fell hat!“ 

Torsten war skeptisch. „Er hat uns angegriffen und das Auto völlig zerstört. Von wegen verspielt!“

„Du hast ihn angefahren. Er hatte Schmerzen und Angst, darum hat er eine Flamme auf das Auto gespuckt. Er war panisch, als er sein eigenes Feuer sah! Als ich ihn anschrie und mit der Latte schlug, hätte er mich sofort töten können, aber er war verwirrt und wollte mich beschwichtigen. Er war nicht aggressiv.“

Thorsten war nicht überzeugt: „Es ist nicht auszuschließen, dass du recht hast, wer kann das schon sagen? Aber du riskierst dein Leben, wenn du da heruntergehst. Selbst wenn es wirklich dein Hund ist – auch ein verletztes Haustier kann gefährlich werden, wenn man ihm weh tut. Das hast du ja gesehen!“

Brunhilda hatte keine Zweifel. Da unten lag ihre Trixi. Ihr Hund. Und sie musste ihr helfen, auch wenn sie aussah wie ein Drachen. 

Sie schaute Melissa an: „Kommst du mit mir? Wenn der Drachen mich angreift, dann kannst nur du ihn stoppen. Ich weiß, du willst niemanden versteinern, aber wenn wir ihm nicht helfen, wird er qualvoll sterben. Das kann ich nicht zulassen. Lass es uns versuchen. Wenn es nicht geht, dann hat er jedenfalls keine Schmerzen mehr.“


Melissa sah mit bebenden Lippen auf den Drachen, ihre Schlangen peitschten aufgeregt durch die Luft. Severin schlug einen erschrockenen Salto und umflatterte sie aufgeregt. Schließlich beruhigten sich die Schlangen und sanken friedlich herab. 

Das Mädchen nickte. „Ja, ich komme mit. Ich glaube, du hast recht. Wir können ihn auf keinen Fall hilflos liegen lassen.“

„Ich begleite euch“, sagte Daniel, „ich lasse Melissa nicht alleine gehen. Und mir tut der Drachen auch leid. Er sieht fast so aus wie mein Paulchen, nur in Rot, statt in Grün!“

„Wenn ihr fest entschlossen seid, dass ihr dem Vieh helfen müsst, dann müssen wir es halt riskieren und uns auf Melissa verlassen. Lasst uns gehen“, sagte Thorsten resigniert. 

Hilda übernahm die Führung, Melissa folgte direkt hinter ihr. Wenn der Drachen sie angreifen würde, würde sie die Sonnenbrille absetzen und ihn versteinern. 

Die rothaarige Frau lugte durch die Büsche. Der Drachen hatte sich am Ufer zusammengerollt. Hilda bestaunte seine schimmerte Haut und die glänzenden Schuppen. Die gefährlich wirkenden Dornen auf dem Rückgrat ließen ihn noch größer und gefährlicher erscheinen. Dennoch wuffte und schniefte er genauso hilflos und verängstigt wie ein Welpe und ihr Herz flog ihm entgegen.


Brunhilda trat vor und sprach sanft auf ihn ein. „Hallo Trixi, meine Schöne! Was machst du denn für Sachen? Komm zu Frauchen, komm her!“ Langsam trat sie näher, Melissa dicht auf den Fersen.

Der Drachen wandte seinen Kopf, kummervoll drückte er seine Schnauze an Hilda und schielte sie treuherzig an. Er winselte unterwürfig, sein Schwanz wedelte. Dem Drachen – Trixi – schien es miserabel zu gehen. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam und beim Einatmen zischte jedes Mal Luft in die Wunde im Brustkorb. Bei dem Autounfall schien er sich nicht nur die Rippen gebrochen zu haben, Hilda fürchtete, dass die Lunge verletzt war.

Trixi ließ ihren gewaltigen Kopf erschöpft auf die Pranken sinken. Blut rann ihr in einem dünnen Faden aus dem Maul und verschmierte die glänzenden Schuppen. Nickhäute hatten sich über ihre dunklen Hundeaugen gesenkt, sie wirkten trübe.

Brunhilda berührte ihn vorsichtig an der Nase. Der Drachenhund öffnete das Maul, die raspelartige Zunge leckte über Brunhildas Gesicht und hinterließ eine Schleimspur.

Hilda wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. „Brave Trixi, nicht lecken. So ist gut. Lass mich mal schauen, was wir für dich tun können!“ 

Sie trat an seine Flanke, um die Wunden genauer zu sehen. Der eingedrückte Brustkorb und die scharfen Bruchstücke der Rippen, die sie in der offenen Wunde erkennen konnte, verhießen nichts Gutes. Dunkles Blut sickerte aus der Wunde, bei jedem Ausatmen verstärkte sich der Schwall, um dann beim Einatmen fast zu versiegen. Zischend wurde irgendwo Luft in den Brustkorb gezogen, Hilda hatte den Eindruck, als ginge es dem Tier zunehmend schlechter. Der Flügel hing verdreht und kraftlos herunter, die ledrige Schwinge hing in Fetzen. Sie fragte sich, ob sie dem schwer verletzten Tier überhaupt helfen konnten.


Das Gras war mit dem Drachenblut besudelt, der süßliche Eisengeruch des Blutes vermischte sich mit dem betörenden Duft der Rosenhecke. Die Sonne brannte, Fliegen krabbelten über die zerbrochenen Schuppen und summten, vom Blutgeruch angezogen, um die Wunden. Bei der leisesten Berührung zuckte der verwandelte Hund zusammen und zog sich winselnd zurück. Er knurrte leise warnend, wenn Brunhilda ihre Hand neben die offene Wunde legte.

Thorsten brachte einen Stapel Laken und einen Verbandskasten aus Hildas Haus, Daniel schleppte einen Eimer dampfend heißes Wasser und eine Packung Hundekuchen.

„Wir brauchen einen Tierarzt“, sagte Hilda kummervoll. „Er lässt sich nicht anfassen. So können wir ihn nicht verbinden. Und die Knochen können wir ohnehin nicht richten.“

Daniel fischte eine Packung Schmerzmittel aus dem Verbandskasten und hielt ein Stück Leberwurst hoch. „Die haben wir im Kühlschrank in der Küche gefunden. Wir füttern dem Drachen die Wurst. Die Tabletten stecken wir einfach vorher hinein. So macht es meine Mutter immer, wenn unsere Mieze ihre Wurmkur bekommt.“

Hilda schaute zweifelnd auf die Tabletten. „Wir haben gerade mal zwanzig Stück. Einen Versuch ist es wert. Aber ehrlich, bei seiner Größe wird das nicht viel ausrichten können.“

Mit dem Daumen drückte Daniel die Tabletten in die Wurst. Severin, winzig wie er war, schnappte einen der Zipfel und zog und zerrte die Wurst zum Drachenmaul. Daniel, über den tapferen Pixie lächelnd, fasste den zweiten Zipfel. Gemeinsam schleppten sie die Wurst zum Maul und boten sie dem Drachen an. Der schnüffelte schwach, leckte mit der Zunge darüber und wandte dann müde den Kopf ab. Daniel schob ihm die Wurst tief zwischen die Zähne und streichelte seine Kehle. Endlich schluckte der Drache und die Wurst war verschwunden. Mitleidig strich Daniel dem Drachen über den Kopf. Dabei berührte er eine Stelle, an der sich der Drachen am Blech des Autos das Ohr eingerissen hatte. Ein blauer Schimmer hüllte das Ohr für einen Augenblick ein, der Drachen zuckte.


Erschrocken zog Daniel die Hand zurück, aber Severin schrie begeistert auf. 

„Herr Daniel, ihr seid magisch! Ihr seid ein Heiler! Fasst noch einmal an das Ohr und wünscht es heil!“ Er ließ sich neben dem Drachenohr nieder und trippelte auf dem schuppigen Kopf hin und her. „Fasst es sanft an, und stellt euch vor, das Ohr wäre gesund.“

Hilda warnte: „Sei vorsichtig, dass du ihn nicht erschreckst, Daniel. Wenn er zubeißt, kann dich nicht einmal Melissa retten, wenn du so nah vor seinem Rachen stehst!“

Zögernd legte Daniel seine Hand auf das Ohr. Er wünschte sich, die Verletzung wäre verschwunden, das Ohr unversehrt. Er stellte sich die feinen Schuppen vor, wie sie glatt und glänzend nebeneinanderlagen und das Ohr bedeckten – ohne hässlichen Riss. Das blaue Leuchten erschien, aber es war schwach und im Sonnenlicht kaum wahrnehmbar.

Severin feuerte ihn an. „Denkt das Ohr gesund, junger Heiler. Ihr dürft an nichts anderes denken als Heilung.“ 

Der Junge schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Das Schimmern verstärkte sich ein wenig. Der Drachen zuckte mit dem Ohr. Melissa, die mit angehaltenem Atem neben ihm stand, begann zu singen.

Die fließende Melodie schwoll wie sanfte Wogen auf und ab und brachte die Luft zum Vibrieren. Ihre Nattern fielen mit ein, ihre Stimmen umwoben ihr Lied, es klang zauberhaft – und es war magisch. Ihre Töne verstärkten das Licht, das von Daniels Hand ausging, es wurde heller und kräftiger und schließlich blendend hell. Melissas Sirenengesang verklang, das Ohr war makellos.


„Es hat geklappt, es hat tatsächlich geklappt!“ Melissa jubelte und umarmte Daniel, die Schlangen schmiegten sich an ihn und rieben ihre Köpfe an seiner Wange.

Daniel blickte auf Melissa nieder. „Es war dein Lied, das mir die Kraft gegeben hat.“ Er lächelte sie zärtlich an. „Du bist echt ein ganz besonderes Monster!“ 

Melissa lächelte glücklich und streichelte stolz den Kopf einer ihrer Schlangen. 

Der Blumenelf rief sie zur Ordnung. „Ein Drachen braucht eure Hilfe! Es ist zu früh zum Feiern, Arbeit wartet auf euch!“ 

Während Melissas Gesang hatte Thorsten Hildas Hand gefasst und den Atem angehalten. Jetzt löste er sich langsam aus seiner Verzauberung. „Ja, lass uns sehen, ob du auch bei den schweren Verletzungen etwas ausrichten kannst.“

Daniel wurde beinahe schlecht, als er die Verletzungen genauer betrachtete. Das sah wirklich übel aus. 

Auch Melissa erblasste. „Ich wünsche mir wirklich, dass wir den Drachen heilen können. Er ist großartig und ich hasse die Vorstellung, dass er sterben könnte“, stammelte sie.

Daniel presste seine Hände neben die Wunde auf die Schuppen. Er schloss die Augen und wünschte sich sehnlichst, der Drachen wäre gesund. Ob er fliegen konnte? Er sah ihn vor sich, wie er in der heißen Nachmittagssonne den Hals reckte, seine mächtigen Schwingen regte und hinauf in den Himmel strebte. Melissas Lied setzte ein. Es begann als sehnsuchtsvoller Ruf, lockend und süß, ihre Stimme ließ ihn tiefer hineintauchen in seine Vision. Er spürte den Wind, der an seinen Flügeln zerrte, er glitt über den Turm von Hildas Haus. Daniels Geist fand das Bewusstsein von Trixi, dem Hund, beruhigte ihn, gab ihm Mut.


Die Töne gewannen an Kraft, wurden lauter, gebieterischer. Sie baten nicht mehr um Gehör, sie befahlen. Das Lied gewann an Tempo, die Melodien verflochten sich. Sie riefen, sie beschworen. Er verschmolz mit dem Drachen, wurde eins mit ihm. Die Schlangen bildeten einen vielstimmigen Chor, der machtvoll anschwoll. Zwischen Daniels Fingern strahlte es hell auf, er spürte, wie der Fluss der Energie ihn durchströmte. 

Hilda liefen die Tränen über die Wangen, sie öffnete den Mund und ließ ihre Stimme in die Flut der Töne einfließen. Die helle Stimme des Pixie schwebte wie eine Piccoloflöte über dem herrlichen Gesang, Thorstens tiefer Bass untermalte den Chor. Sie riefen den Drachen, erweckten mit ihrem Lied die Magie. 

Sie erwachte endgültig aus ihrem langen Schlaf, wie eine Woge rollte sie über das Land. Sie erneuerte die Kraft der Erde und tauchte die Welt in leuchtende Farben. 

Energie strömte durch Daniels Hände. Das Lied weckte die Seele des Drachen. Wie ein Schatten tauchte sie aus dem Vergessen auf, ein uraltes Bewusstsein, das aus tiefem Schlaf erwachte. Es streifte Daniels Geist und hüllte ihn ein. Die fremde Präsenz zog Daniels Energie an sich, gewann an Kraft und lenkte Daniels unbeholfene Versuche, den Drachen zu heilen.

Die Kraft, die aus seinen Händen in den Drachen übertrat, formte sich unter der Anleitung des fremdartigen Geistes. Sehnen fügten sich zusammen, Knochen heilten, das Rasseln der Lungen wich ruhigem Atem. Die Schuppen glätteten sich, schimmerten und glänzten. Das ganze Land sang mit ihnen, die Melodie verflocht mit den vielfältigen Stimmen der Sänger und schwebte über ihnen in der Luft. Sie brachte den Boden zum Vibrieren und ließ den Wald raunen. Wolken sangen. Tiere erhoben ihre Stimmen.


Das Bewusstsein des Wesens regte sich, sah sich um. Es fand Trixies liebevolle Hundeseele. Sie betrachtete sie und nahm Trixies Geist und Seele in sich auf. Es verschmolz mit der Seele des Hundes zu einer neuen Persönlichkeit. Daniel ließ erschöpft seine Hände sinken, löste sich von der Chimäre und trat zurück. 

Die Königin der Drachen war erwacht. Sie war weise, grausam und großartig, uralt und mächtig wie der Sturm. Aber sie war auch eine junge, verspielte, liebenswerte Labradorhündin. Sie breitete ihre Flügel aus – gesunde, starke Flügel. Sie schlug mit den Schwingen, ihre Ohren dröhnten vom Luftzug.

Sie begann zu laufen, ihre Flügel pumpten, unter den mächtigen Tönen des Liedes sprang sie in die Luft und schwang sich in den Himmel empor. Sie glitt hinauf in die endlose Bläue. Sah unter sich den winzigen See liegen, gewann an Höhe und segelte über die Felswand hinweg. Sie fühlte den Wind unter den Flügeln. Sie glitt über ein Land, das erneut unter dem gemächlichen Pulsschlag der Magie atmete und lebte. Wälder flüsterten in einem Wind, der Bewusstsein mit sich trug. Zu gleicher Zeit versagten anderswo Handys und Autos, Atomkraftwerke und Verkehrsampeln. Das Zeitalter der Technik versank in Schlaf.


Sie dachte zurück an die Zeit vor vielen tausend Jahren, als sie über dieses Land geflogen war und es beherrscht hatte. Sie erinnerte sich an Zeiten voll Licht und Schatten, voller Kampf und voller Gesang. Erinnerte sich an große Zeiten, an Macht und Ruhm, elende Verräter und edle Helden. Und sie erinnerte sich an eine rothaarige Frau, eine Frau, die sie liebte und der sie vertraute, die mit ihr spielte und sie fütterte und in deren Bett sie schlief. 

Sie blickte hinunter auf die Wesen, die sie erweckt hatten. Da unten stand ihr Heiler, sie konnte die Magie in ihm spüren, stark, aber noch ungeschult. Daneben die Frau, welche ihre Sängerin sein würde. Eine Sirene, eine Medusa. Welche Macht sie besaß! Der Drachen legte den Kopf zurück, ließ ihre Stimme ertönen und fiel ein in das magische Lied, das noch immer über dem ganzen Land schwebte.

Melissa und Daniel standen Hand in Hand und blickten hinauf zu dem Drachen. Melissas Schlangen sangen, Daniel war in eine schwache, blaue Aura gehüllt. Die Magie war erwacht und nichts würde mehr sein wie bisher. 

2022, by Dolcemara